Ein Countdown, der besonderen Art
Sonntag, 19. September 2021 11:20

Wenn ich nur noch dreißig Minuten zu leben hätte, dann wäre ich froh und glücklich. Das mag sich komisch anhören aber ich meine es ganz Ernst. Denn das bedeutet, dass es mir vergönnt ist Abschied zu nehmen.

 

Das ich weiß, was auf mich zukommt. Wobei auch das klingt komisch, denn was weiß ich schon. Ich weiß, dass ich bald Tot bin und auf eine Reise gehen werde, die schon endlos viele vor mir gegangen sind. Es ist eine Reise ins Unbekannte und gleichwohl eine Reise, in den Fußstapfen aller meiner Vorfahren.

 

Was mache ich mit meinen letzten dreißig Minuten? Sind meine Lieben bei mir? Würde ich mir das wünschen? Wenn ich es aussuchen dürfte, habe ich mich vorher schon von meinen Lieben verabschiedet. Ich habe sie alle nochmal ganz fest gedrückt und für jeden einzelnen einen Brief geschrieben.

 

Ich habe keine Angst zu gehen. Ich bin bereit. Es ist nun meiner Zeit um das Geschenk auszupacken. Das Geschenk von dem Niemand, den ich auf Erden kenne, weiß was drin ist. Ich bin Neugierig. Ich weiß etwas ist da, ich glaube gar zu wissen, dass es etwas schönes ist. Aber woher ich das Wissen sollte, das entzieht sich meiner Kenntnis.

 

Glauben ist so eine Sache. Dieses tiefe Wissen, das man spüren kann aber nicht logisch begründen. Werde ich meinem Papa wieder sehen? In welcher Form? Alles unbekannt. Ich liebe das Unbekannte. Dort befinden sich die wahre Wunder.

 

In den Briefen für meinen Lieben, möchte ich tröstende Worte finden aber auch heitere. Ich möchte erinnert werden als jemand, der das Leben umarmt hat. Der es voll und ganz auskostet hat. Der es wünscht, dass es allen Menschen gut ergeht. Vor allem die, die man liebt. Jeder wird trauern auf seiner Weise. Aber ich wünsche mir, dass keiner meiner Lieben in den Trauer stecken bleibt. Bitte denkt an die guten Zeiten, an meine Albernheiten. An all das, was schön war, und an allen schönen Momenten, die noch kommen werden. Ich werde bei euch sein. Dann wenn ihr mich braucht. Ich möchte euch im Ohr flüstern: Alles wird gut. Immer. Alles gehört dazu. Und jeden Tag hat etwas wofür man dankbar sein kann. Auch wenn es manchmal nur ist, dass der Tag zu Ende ist. Ich wünsche mir, dass ihr euch immer freut auf Morgen.

 

Morgen... Für mich gibt es den nicht mehr... Ich habe nur noch 30 Minuten. Das ist nicht wenig. Aber auch nicht gerade sehr viel.

 

Ich möchte die Augen schließen und einfach geduldig warten. Bis es soweit ist. Bis mein Herz aufhört zu schlagen. Ich möchte durch die Nase atmen. Und selig lächelnd den Tot entgegenblicken. Ob mir, dass wirklich gelingt? Ich werde es irgendwann wissen. Und wenn nicht ist das auch in Ordnung. Das Leben kommt wie es eben kommt. Man erfährt es. Wenn man alles gibt kann man sich nie etwas vorwerfen.

 

Und so denke ich vor mich hin und bin Zufrieden.

 

Au Revoir meine Lieben.

Ich habe euch sehr lieb.

Bis auf Wiedersehen.

 

11:39 Elf Uhr Neununddreißig 

Ach Mist, ich habe immer noch 11 weitere Minuten.

Geduld war noch nie meine stärkste Seite.

Wo bleibt mein Geschenk?

Kommt es mit roten Schleifen?

Kommt ein langer weißer Gang?

Muss ich irgendwo hindurchsteigen?

Wird mir jemanden die Hand reichen?

Fragen, über Fragen.

Man muss die Fragen lieben.

 

Wenn man die Fragen liebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.

 

Selbst in meinen letzten Minuten denke ich in Zitaten ;-)

 

Ich trete in den Fußstapfen von großen Frauen und Männer.

 

Ich habe immer noch 6 Minuten. Ich entscheide mich ab hier zu schweigen.

 

Wellengeräusch oder ist das doch die Spülmaschine?

Ich lächele.

 

Genauso möchte ich gehen.

Heiter und gelassen.

Allein und doch nicht einsam.

In dem Wissen geliebt zu werden.

In dem Wissen, dass die Stille mich nicht verschlingt.

Denn ich höre die Musik.

 

Drei Minuten noch.

 

Welche Musik spielt dann dort?

Rammstein in Klavierversion?

Beethoven oder Bach?

Oder doch Ilse de Lange?

 

Nein, es ist mein Papa. Er spielt Klavier.

Seine Finger gleiten geschmeidig über die Tasten.

Er ruft mich zu sich.

Er streckt seine Hand entgegen.

Ich komme.

Ich bin gleich da.

 

Taadaaa!

.....

11:50

 

P.S.

Ich seh, ich seh, was du nicht siehst...

Lebe, liebet, weint, lacht und genießt.

Und fürchte den Tag nicht, wenn auch du auf diese Reise gehst.

Es wird schön. Ich verspreche es dir. 

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